11

 

Sechzig Sekunden. So lange müssen wir auf unseren Metallscheiben stehen bleiben, bis ein Gong uns freilässt. Geht jemand vorher hinunter, reißen Landminen ihm die Beine ab. Sechzig Sekunden, um den Ring der Tribute zu betrachten, die alle in gleicher Entfernung vom Füllhorn stehen, einem riesigen goldenen Horn mit gebogenem Ende, dessen Öffnung mindestens sechs Meter groß ist und von allem Möglichen überquillt, was uns hier in der Arena das Überleben sichern wird. Nahrungsmittel, Wasserkanister, Waffen, Medikamente, Kleidung, Feueranzünder. Rings um das Füllhorn verstreut liegen noch mehr Vorräte, deren Wert immer mehr abnimmt, je weiter sie vom Horn entfernt sind. Nur ein paar Schritte von meinen Füßen entfernt liegt zum Beispiel eine ein mal ein Meter große Plastikplane. Bei einem Platzregen wäre sie bestimmt hilfreich. Aber in der Öffnung des Füllhorns erkenne ich ein zusammengerolltes Zelt, das mich bei so ziemlich jedem Wetter schützen würde. Vorausgesetzt, ich hätte den Mumm, hinzugehen und mit den anderen dreiundzwanzig Tributen darum zu kämpfen. Was ich nicht tun soll, wie mir eingeschärft wurde.

Wir befinden uns in flachem, offenem Gelände. Eine Ebene aus festgestampfter Erde. Hinter den Tributen, die mir gegenüberstehen, kann ich nichts erkennen, was einen steil abfallenden Hang oder gar eine Klippe vermuten ließe. Rechts von mir liegt ein See. Links und hinter mir lichter Kiefernwald. Haymitch würde wollen, dass ich dorthin renne. Sofort.

Ich habe seine Anweisungen im Ohr: »Haut einfach ab, legt so viel Strecke wie möglich zwischen euch und die anderen und sucht eine Wasserquelle.«

Aber es ist verlockend, verdammt verlockend, all die Gaben zu sehen, die dort auf mich warten. Und ich weiß, wenn ich sie nicht bekomme, wird ein anderer sie bekommen. Dass die Karrieretribute, die das Anfangsgemetzel überleben, die meisten dieser überlebenswichtigen Sachen unter sich aufteilen werden. Etwas sticht mir ins Auge. Dort, auf einem Berg zusammengerollter Decken, liegt ein silberner Köcher mit Pfeilen und ein schon besehnter Bogen, der nur darauf wartet, benutzt zu werden. Der gehört mir, denke ich. Der ist für mich bestimmt.

Ich bin schnell. Ich kann schneller rennen als die anderen Mädchen in meiner Schule, nur im Langstreckenlauf sind ein paar von ihnen besser. Aber für diese vierzig Meter bin ich wie geschaffen. Ich weiß, dass ich ihn kriegen kann, ich weiß, dass ich zuerst da sein kann, aber die Frage, die sich danach stellt, lautet: Wie schnell komme ich wieder weg? Bis ich den Deckenberg hochgeklettert bin und die Waffen eingesammelt habe, werden andere beim Horn angekommen sein. Ein oder zwei könnte ich vielleicht erledigen, aber wenn dann immer noch ein Dutzend in unmittelbarer Nähe übrig ist, könnten sie mich mit Speeren und Keulen niederstrecken. Oder mit ihren mächtigen Fäusten.

Allerdings wäre ich ja nicht das einzige Ziel. Viele der anderen Tribute würden mich kleines Mädchen wahrscheinlich links liegen lassen, selbst wenn ich im Training eine Elf erreicht habe, um gefährlichere Gegner auszuschalten.

Haymitch hat mich noch nie rennen sehen. Vielleicht hätte er mir sonst geraten, es zu versuchen. Mir die Waffe zu schnappen. Genau die Waffe, die mich vielleicht retten kann. Und ich sehe nur einen einzigen Bogen in dem Haufen. Die Minute muss fast um sein, mir ist klar, dass ich mich jetzt für eine Strategie entscheiden muss. Ich stelle die Füße in Startposition, aber nicht, um in die umliegenden Wälder zu fliehen, sondern um zum Haufen zu rennen, zum Bogen. Plötzlich bemerke ich Peeta, etwa fünf Tribute weiter rechts, ziemlich weit weg, doch ich merke trotzdem, dass er mich ansieht, und es kommt mir vor, als würde er den Kopf schütteln. Aber die Sonne blendet mich, und während ich darüber nachdenke, ertönt der Gong.

Und ich hab sie verpasst! Ich hab meine Chance verpasst! Wegen dieser paar vergeudeten Sekunden, in denen ich mich nicht entschließen konnte, ob ich zum Horn rennen sollte oder nicht. Ich scharre unschlüssig mit den Füßen, weiß nicht, welche Richtung mein Hirn für die beste hält, dann stürme ich los, schnappe mir die Plastikplane und einen Laib Brot. Die Ausbeute ist so gering und ich bin so wütend auf Peeta, weil er mich abgelenkt hat, dass ich zwanzig Meter weitersprinte zu einem knallorangefarbenen Rucksack, der alles Mögliche enthalten könnte. Ich würde es nicht ertragen, praktisch mit leeren Händen loszuziehen.

Ein Junge, ich glaube, aus Distrikt 9, erreicht den Rucksack zur gleichen Zeit wie ich, wir zerren eine Weile daran, plötzlich fängt er an zu husten und bespritzt mein Gesicht mit Blut. Ich taumele zurück, angeekelt von dem warmen, klebrigen Zeug. Da gleitet der Junge zu Boden und ich sehe das Messer in seinem Rücken. Einige der anderen Tribute haben das Füllhorn erreicht und schwärmen zum Angriff aus. Zehn Meter entfernt ist das Mädchen aus Distrikt 2 und rennt genau auf mich zu, ein halbes Dutzend Messer in einer Hand. Ich habe sie beim Training werfen gesehen. Sie trifft immer. Und ich bin ihr nächstes Ziel.

Die allgemeine Angst, die ich empfinde, verdichtet sich zur unmittelbaren Angst vor diesem Mädchen, diesem Raubtier, das mich in Sekundenschnelle töten könnte. Adrenalin schießt durch meinen Körper, ich werfe mir den Rucksack über die Schulter und renne, so schnell ich kann, auf den Wald zu. Ich höre, wie das Messer auf mich zusaust, und ziehe instinktiv den Rucksack hoch, um meinen Kopf zu schützen. Die Klinge bohrt sich in den Rucksack. Ich streife auch den anderen Träger über und laufe Richtung Bäume. Irgendwie weiß ich, dass das Mädchen mich nicht verfolgen wird. Dass es sie zurück zum Füllhorn zieht, bevor die guten Sachen weg sind. Ich muss grinsen. Danke für das Messer, denke ich.

Am Waldrand schaue ich einen Augenblick lang zurück, um die Lage zu sondieren. Rund um das Füllhorn hacken etwa ein Dutzend Tribute aufeinander ein. Ein paar liegen schon tot am Boden. Diejenigen, die die Flucht ergriffen haben, verschwinden gerade zwischen den Bäumen oder in dem Nichts auf der anderen Seite. Ich renne weiter, bis der Wald mich vor den anderen Tributen verbirgt, dann falle ich in einen leichten Trab, den ich bestimmt eine Weile durchhalten kann. In den nächsten Stunden wechsele ich zwischen Dauerlauf und Gehen, um so viel Strecke wie möglich zwischen mich und meine Gegner zu legen. Beim Kampf mit dem Jungen aus Distrikt 9 habe ich das Brot verloren, dafür konnte ich mir die Plastikplane in den Ärmel stopfen. Im Gehen falte ich sie ordentlich zusammen und verstaue sie in einer Tasche. Dann ziehe ich das Messer aus dem Rucksack heraus - ein gutes Messer mit langer scharfer Klinge, am Griff gezackt, sodass ich es gut zum Sägen benutzen kann - und stecke es in den Gürtel. Noch wage ich nicht, anzuhalten und den Inhalt des Rucksacks zu untersuchen. Ich laufe einfach weiter und bleibe nur stehen, um mich nach möglichen Verfolgern umzuschauen.

Ich kann lange durchhalten. Das habe ich in den Wäldern gelernt. Aber ich werde Wasser brauchen. Das war Haymitchs zweite Anweisung, und da ich die erste irgendwie verpatzt habe, halte ich jetzt die Augen offen. Ohne Erfolg.

Der Wald verändert sich und die Kiefern wechseln sich jetzt mit verschiedenen anderen Baumarten ab, von denen ich manche kenne, andere noch nie gesehen habe. Plötzlich höre ich ein Geräusch und ziehe mein Messer, um mich, wenn nötig, zu verteidigen, doch ich habe nur ein Kaninchen aufgeschreckt. »Schön, dich zu sehen«, flüstere ich. Wo ein Kaninchen ist, könnten Hunderte sein, die nur darauf warten, in meine Fallen zu gehen.

Das Gelände fällt leicht ab. Das mag ich nicht besonders. In Tälern fühle ich mich gefangen. Ich möchte hoch oben sein, wie in den Hügeln rund um Distrikt 12, wo ich sehen kann, wenn Feinde im Anmarsch sind. Doch ich habe keine Wahl, ich muss weiter.

Seltsam, aber mir geht es eigentlich nicht schlecht. Die Tage, an denen ich mich vollgefressen habe, machen sich bezahlt. Meinem Durchhaltevermögen hat es nicht geschadet, dass ich so wenig geschlafen habe. Und in den Wäldern zu sein ist wie ein Jungbrunnen. Ich freue mich über die Einsamkeit, obwohl sie eine Illusion ist, denn wahrscheinlich kann man mich in diesem Augenblick auf dem Bildschirm sehen. Nicht die ganze Zeit, aber ab und zu. Am ersten Tag gibt es so viele Tode anzuschauen, dass ein Tribut, der durch die Wälder wandert, nicht besonders viel hermacht. Aber ich werde häufig genug gezeigt, damit die Leute wissen, dass ich am Leben bin, unverletzt und in Bewegung. Am Eröffnungstag, wenn die ersten Verluste einlaufen, geht es bei den Wetten immer besonders hoch her. Aber das ist kein Vergleich damit, was los ist, wenn das Feld auf eine Handvoll Spieler zusammengeschrumpft ist.

Es ist später Nachmittag, als ich die Kanonen höre. Jeder Schuss steht für einen toten Tribut. Offenbar ist das Töten am Füllhorn endlich zu Ende. Die Leichen des Gemetzels werden erst dann eingesammelt, wenn die Mörder weg sind. Am Eröffnungstag feuern sie die Kanonen sogar erst dann ab, wenn die ersten Kämpfe allesamt vorüber sind, weil sie kaum den Überblick über die Todesfälle behalten können. Keuchend genehmige ich mir eine Pause, während ich die Schüsse zähle. Eins ... zwei ... drei ... und noch einer und noch einer bis elf. Elf Tote insgesamt. Noch dreizehn sind im Spiel. Mit den Fingernägeln kratze ich das getrocknete Blut ab, das der tote Junge aus Distrikt 9 mir ins Gesicht gehustet hat. Er ist tot, mit Sicherheit. Ich frage mich, was mit Peeta ist. Hat er den Tag überstanden? In ein paar Stunden werde ich es wissen. Wenn sie die Gesichter der Toten an den Himmel projizieren, damit wir anderen sie sehen können.

Plötzlich überwältigt mich der Gedanke, Peeta könnte schon verloren sein; verblutet, abgeholt und auf dem Weg zurück ins Kapitol, um gesäubert, angekleidet und in einer schlichten Holzkiste zurück nach Distrikt 12 geschickt zu werden. Nicht mehr hier. Auf dem Weg nach Hause. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich ihn gesehen habe, als es losging. Aber das letzte Bild, das ich heraufbeschwören kann, ist der kopfschüttelnde Peeta, während der Gong ertönt.

Vielleicht ist es besser, wenn er schon tot ist. Er hatte kein Vertrauen in seinen Sieg. Und ich muss mich am Ende nicht der unerfreulichen Aufgabe stellen, ihn zu töten. Vielleicht ist es besser, wenn er für immer fort ist.

Erschöpft sinke ich neben meinem Rucksack zusammen. Bevor es Nacht wird, muss ich ihn sowieso durchforsten. Damit ich weiß, womit ich arbeiten kann. Als ich die Riemen löse, merke ich, dass er solide verarbeitet ist, nur die Farbe ist ungünstig. Das Orange wird in der Dunkelheit regelrecht leuchten. Ich werde versuchen daran zu denken, dass ich ihn morgen als Erstes tarne.

Ich öffne den Rucksack. Was ich in diesem Augenblick am liebsten hätte, ist Wasser. Als Haymitch sagte, wir sollten als Erstes Wasser suchen, hatte er seine Gründe. Ohne Wasser werde ich nicht lange durchhalten. Ein paar Tage kann ich mit den unangenehmen Begleiterscheinungen des Austrocknens funktionieren, aber dann werde ich hilflos und in einer Woche bin ich tot, maximal. Vorsichtig hole ich die Vorräte heraus. Ein dünner schwarzer Schlafsack, der die Körperwärme speichert.

Eine Packung Kräcker. Eine Packung getrocknete Rindfleischstreifen. Eine Flasche Jod. Eine Schachtel Streichhölzer. Eine kleine Rolle Draht. Eine Sonnenbrille. Und eine Zweiliterflasche für Wasser, ohne einen Tropfen darin.

Kein Wasser. Welche Mühe hätte es sie gekostet, die Flasche zu füllen? Ich spüre die Trockenheit in der Kehle und im Mund, meine aufgesprungenen Lippen. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen. Es war heiß und ich habe viel geschwitzt. Das kenne ich von zu Hause, aber da sind immer Bäche, aus denen ich trinken kann, oder Schnee, den ich schmelzen kann, wenn nötig.

Während ich die Sachen wieder in den Rucksack packe, kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Der See. Den ich gesehen habe, als ich auf den Gong wartete. Wenn der nun die einzige Wasserquelle in der Arena wäre? Auf diese Weise hätten sie die Garantie, dass sie uns in Kämpfe verwickeln. Der See ist einen ganzen Tagesmarsch von da entfernt, wo ich jetzt sitze, ein sehr beschwerlicher Marsch, wenn man nichts zu trinken hat. Und selbst wenn ich ihn erreiche, wird er garantiert streng von den Karrieretributen bewacht. Ich gerate schon fast in Panik, als mir das Kaninchen einfällt, das ich vorhin aufgescheucht habe. Das muss doch auch trinken. Ich muss nur herausfinden, wo.

Die Dämmerung bricht an und ich fühle mich unbehaglich. Die Bäume stehen nicht dicht genug, um Deckung zu bieten. Die Schicht aus Kiefernnadeln, die meine Schritte dämpft, macht es auch schwerer, Tierspuren zu entdecken. Doch ich muss die Wildwechsel finden, damit sie mich zum Wasser führen. Und es geht immer noch bergab, tiefer und tiefer hinein in ein Tal, das endlos scheint.

Hungrig bin ich auch, aber ich wage es nicht, meinen wertvollen Vorrat an Kräckern und Rindfleisch anzubrechen. Stattdessen nehme ich mein Messer und mache mich an einer Kiefer zu schaffen, schneide die äußere Rinde weg und kratze ein wenig von der weicheren inneren ab. Im Weitergehen kaue ich langsam auf der Rinde. Nach einer Woche mit den erlesensten Speisen der Welt fällt es nicht gerade leicht, das hinunterzuschlucken. Aber ich habe in meinem Leben schon so viel Kiefer gegessen. Daran werde ich mich schnell gewöhnen.

Eine Stunde später ist klar, dass ich einen Platz zum Kampieren brauche. Die Geschöpfe der Nacht kommen hervor. Gelegentlich höre ich es heulen oder jaulen - der erste Hinweis darauf, dass ich mit natürlichen Räubern um die Kaninchen konkurriere. Ob ich ebenfalls als Nahrungsquelle betrachtet werde, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Gut möglich, dass in diesem Moment schon eine ganze Reihe von Tieren hinter mir herschleicht.

Aber fürs Erste stehen meine Mittribute ganz oben auf der Liste. Bestimmt werden viele die ganze Nacht hindurch weiterjagen. Diejenigen, die am Füllhorn gekämpft haben, besitzen nun Lebensmittel, jede Menge Wasser aus dem See, Fackeln oder Taschenlampen sowie Waffen, die sie unbedingt benutzen wollen. Ich kann nur hoffen, dass ich weit und schnell genug gelaufen bin, um aus ihrer Reichweite zu sein.

Bevor ich mich niederlasse, stelle ich im Gestrüpp mit meinem Draht zwei Schwippgalgenfallen. Es ist riskant, Fallen zu stellen, das ist mir klar, aber Nahrung wird schnell knapp werden. Und wenn ich weiterziehe, kann ich keine Fallen stellen. Trotzdem gehe ich noch fünf Minuten, bevor ich mein Lager herrichte.

Sorgfältig suche ich mir einen Baum aus. Eine Weide, nicht allzu groß, dafür umgeben von anderen Weiden, die mit ihren langen, herabhängenden Ästen Deckung geben. Ich erklettere den Baum, indem ich auf die stärkeren Äste nahe dem Stamm trete, und finde eine stabile Astgabel als Bettstatt. Nach einigem Hin und Her liegt mein Schlafsack in einer relativ bequemen Position. Bevor ich hineinschlüpfe, stecke ich den Rucksack ans Fußende. Vorsichtshalber ziehe ich meinen Gürtel heraus, binde ihn um Ast und Schlafsack und schließe ihn um meine Taille. So falle ich nicht runter, falls ich mich im Schlaf umdrehe. Ich bin klein genug, um mir das obere Ende des Schlafsacks über den Kopf zu legen, aber ich ziehe mir auch die Kapuze über. Mit Einbruch der Nacht wird es schnell kühl. Es war zwar riskant, aber ich weiß jetzt, dass es die richtige Entscheidung war, den Rucksack zu nehmen. Der Schlafsack, der meine Körperwärme speichert, ist von unschätzbarem Wert. Ich bin mir sicher, dass es in diesem Augenblick die größte Sorge vieler Tribute ist, sich warm zu halten, während ich möglicherweise sogar ein paar Stunden Schlaf bekomme. Wenn ich nur nicht so durstig wäre ...

Die Nacht ist noch jung, als ich die Hymne höre, die die Zusammenfassung der Todesfälle ankündigt. Durch die Äste erkenne ich das Wappen des Kapitols, das am Himmel zu schweben scheint. In Wirklichkeit schaue ich wieder auf einen Bildschirm, einen riesigen diesmal, den eins ihrer Hovercrafts herbeigeschafft hat. Die Hymne verklingt, der Himmel verfinstert sich einen Augenblick lang. Zu Hause bekämen wir jede Tötung in allen Einzelheiten gezeigt, hier jedoch nicht, weil das den überlebenden Tributen einen unfairen Vorteil verschaffen könnte. Wenn ich mir zum Beispiel den Bogen gekrallt und einen Gegner erschossen hätte, wäre mein Geheimnis allen bekannt. Nein, hier in der Arena sehen wir nur dieselben Fotos wie damals bei den Trainingswertungen. Schlichte Porträts. Nur dass sie anstelle der Punktezahlen jetzt die Distriktzahlen zeigen. Ich atme tief durch, während die Gesichter der elf toten Tribute gezeigt werden, und zähle sie einen nach dem anderen an den Fingern ab.

Als Erstes erscheint das Mädchen aus Distrikt 3. Das bedeutet, dass die Karrieretribute aus den Distrikten 1 und 2 alle überlebt haben. Wie zu erwarten. Dann der Junge aus Distrikt 4. Mit dem hatte ich nicht gerechnet, normalerweise schaffen es alle Karrieretribute über den ersten Tag. Der Junge aus Distrikt 5 ... Das fuchsgesichtige Mädchen hat es offenbar geschafft. Beide Tribute aus 6 und 7. Der Junge aus 8. Beide aus 9. Ja, da ist der Junge, mit dem ich um den Rucksack gekämpft habe. Ich habe keine Finger mehr übrig, jetzt fehlt nur noch ein toter Tribut. Ist es Peeta? Nein, es ist das Mädchen aus Distrikt 10. Das war's. Das Wappen des Kapitols erscheint erneut, unterlegt mit einer Schlussfanfare. Dunkelheit und Geräusche des Waldes übernehmen wieder.

Ich bin erleichtert, dass Peeta lebt. Wieder sage ich mir, wenn ich getötet werde und er gewinnt, werden meine Mutter und Prim am meisten davon haben. Damit versuche ich die widersprüchlichen Gefühle zu erklären, die aufkommen, wenn ich an Peeta denke. Die Dankbarkeit dafür, dass er mir einen Vorteil verschafft hat, als er beim Interview seine Liebe zu mir gestand. Die Wut angesichts seiner Überlegenheit auf dem Dach. Das Grauen darüber, dass wir uns in dieser Arena jeden Moment Auge in Auge gegenüberstehen können.

Elf tot, aber keiner aus Distrikt 12. Ich versuche, mir die anderen Überlebenden ins Gedächtnis zu rufen. Fünf Karrieretribute. Fuchsgesicht. Thresh und Rue. Rue ... Sie hat es also immerhin über den ersten Tag geschafft. Ich kann nicht anders, als mich darüber zu freuen. Das macht zehn. Die anderen drei finde ich morgen heraus. Jetzt, wo es dunkel ist, ich so weit gelaufen und in diesem Baum eingebettet bin, jetzt muss ich versuchen auszuruhen.

Zwei Tage lang habe ich kaum geschlafen und dann war da noch die lange Reise in die Arena. Langsam erlaube ich meinen Muskeln zu entspannen. Meinen Augen, zuzufallen. Mein letzter Gedanke ist: Ein Glück, dass ich nicht schnarche ...

Knacks! Das Geräusch eines brechenden Asts weckt mich. Wie lange habe ich geschlafen? Vier Stunden? Fünf? Meine Nasenspitze ist eiskalt. Knacks! Knacks! Was ist da los? Das ist nicht das Geräusch eines Asts, der unter dem Fuß eines Menschen bricht, sondern das harte Knacken, das jemand verursacht, der von einem Baum heruntersteigt. Knacks! Knacks! Es dürfte ein paar Hundert Meter rechts von mir sein. Langsam, lautlos drehe ich mich in diese Richtung. Ein paar Minuten lang ist da nichts als Schwärze und Geräusche. Dann sehe ich einen Funken und ein kleines Feuer leuchtet auf. Zwei Hände, die sich über dem Feuer wärmen, mehr kann ich nicht erkennen.

Ich muss mir auf die Lippe beißen, damit ich dem Feuermacher nicht sämtliche Schimpfwörter an den Kopf werfe, die ich kenne. Was denkt der sich? Ein Feuer in der Abenddämmerung, das wäre vertretbar gewesen. Zu dem Zeitpunkt wären diejenigen, die am Füllhorn gekämpft haben, mit ihrer überlegenen Körperkraft und den üppigen Vorräten noch nicht nah genug gewesen, um den Flammenschein zu sehen. Aber jetzt, da sie wahrscheinlich schon seit Stunden auf der Suche nach Opfern den Wald durchkämmen - da könnte man genauso gut eine Fahne schwenken und rufen: »Hier bin ich!«

Und ich liege hier, nur einen Steinwurf entfernt vom größten Schwachkopf der Spiele. Festgeschnallt in einem Baum. Und wage nicht zu fliehen, weil mein Standort in diesem Augenblick jedem interessierten Killer verkündet wird. Ich weiß natürlich, dass es hier draußen kalt ist und nicht jeder einen Schlafsack hat. Aber dann beißt man eben die Zähne zusammen und hält durch bis zum Morgengrauen!

Die nächsten Stunden liege ich grübelnd in meinem Schlafsack und denke tatsächlich, dass ich von meinem Baum hinuntersteigen und meinen neuen Nachbarn problemlos ausschalten könnte. Mein erster Impuls war zu fliehen, nicht zu kämpfen. Aber offenbar ist dieser Mensch lebensmüde. Dumme Leute sind gefährlich. Und wahrscheinlich besitzt der hier keine nennenswerten Waffen, während ich ein exzellentes Messer mein Eigen nenne.

Der Himmel ist immer noch dunkel, doch ich spüre die ersten Anzeichen der Morgendämmerung. Jetzt denke ich allmählich, dass wir - damit meine ich den Menschen, dessen Tod ich gerade plane, und mich - vielleicht wirklich unbemerkt geblieben sind. Aber dann höre ich sie. Mehrere Fußpaare, die losrennen. Die Feuermacherin muss eingenickt sein. Sie sind über ihr, bevor sie fliehen kann. Ich weiß jetzt, dass es ein Mädchen ist, ich höre es an ihrem Flehen und dann an dem gequälten Schrei. Dann höre ich Gelächter und Beglückwünschungen von verschiedenen Stimmen. Jemand ruft: »Zwölf erledigt und noch elf vor uns!«, was mit zustimmendem Gejohle beantwortet wird.

Sie kämpfen also in einer Meute. Was mich nicht besonders überrascht. In den frühen Phasen der Spiele bilden sich oft Bündnisse. Die Starken schließen sich zusammen und jagen die Schwachen, und wenn die Spannungen zu groß werden, fallen sie übereinander her. Es ist nicht schwer zu erraten, aus wem dieses Bündnis besteht. Es werden die verbliebenen Karrieretribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 sein. Zwei Jungen und drei Mädchen. Die immer gemeinsam zu Mittag gegessen haben.

Eine Weile durchsuchen sie das Mädchen nach Vorräten. An ihren Bemerkungen höre ich, dass sie nichts Brauchbares gefunden haben. Ich frage mich, ob Rue das Opfer ist, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder. Sie ist zu schlau, um in der Nacht ein Feuer zu machen.

»Lasst uns abhauen, dann können sie die Leiche holen, bevor sie anfängt zu stinken.« Ich bin mir fast sicher, dass das der brutale Junge aus Distrikt 2 ist. Ich höre zustimmendes Gemurmel und merke dann zu meinem Entsetzen, dass die Meute in meine Richtung kommt. Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Woher sollten sie? Und ich bin in der Baumgruppe gut getarnt. Zumindest solange die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Dann wird mich mein schwarzer Schlafsack nämlich nicht mehr tarnen, sondern zum Problem werden. Wenn sie einfach weitergehen, sind sie gleich vorbei.

Aber die Karrieretribute bleiben zehn Meter entfernt auf der Lichtung stehen. Sie haben Taschenlampen, Fackeln. Durch das Geäst sehe ich hier einen Arm, da einen Stiefel. Ich erstarre und wage nicht zu atmen. Haben sie mich entdeckt? Nein, noch nicht. An ihrer Unterhaltung merke ich, dass sie mit den Gedanken woanders sind.

»Wieso hören wir nicht langsam mal die Kanone?«

»Stimmt. Was sollte sie davon abhalten, sie jetzt gleich abzuholen?«

»Es sei denn, sie ist nicht tot.«

»Sie ist tot. Ich habe sie höchstpersönlich abgestochen.« »Und wo bleibt dann die Kanone?«

»Einer von uns sollte zurückgehen. Nachgucken, ob die Sache auch wirklich erledigt ist.«

»Ja, ich hab keine Lust, sie zweimal aufzuspüren.« »Ich hab doch gesagt, dass sie tot ist!«

Sie streiten sich, bis eine Stimme die anderen verstummen lässt: »Wir verlieren hier nur Zeit! Ich gehe zurück und erledige sie und dann nichts wie weiter!«

Ich falle fast vom Baum. Die Stimme gehört Peeta.